China Mieville, Dieser Volkszähler
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Ein Junge rennt panisch vom Haus seiner Eltern auf dem Berg hinab: Seine Mutter hat seinen Vater ermordet - oder sein Vater seine Mutter? Um ihn herum die ernsten, übergroßen Gesichter der Fragensteller …
Mievilles Novelle beginnt in einer Mischung aus Atemlosigkeit und Verwirrung. Die Erzählperspektive schwankt zwischen erster und dritter Person, verrät einen zurückschauenden, entfremdeten Protagonisten, der die bruchstückhaften, intensiven Eindrücke seiner Kindheit zusammensetzt.
Etwas aus dem Zusammenhang Gerissenes: Ich war kürzlich bei der Beerdigung meiner Großmutter und habe dabei selbst Erinnerungsbruchstücke sortiert - dicke Weinbergschnecken auf Kohlköpfen im Garten, ein scharf bremsender VW Käfer, das Atomkraftwerk auf der anderen Seite vom Fluss … wollte ich davon eine Geschichte erzählen, müsste ich wohl erst einmal lernen, die leise, geisterhafte Phantastik der Kindheit ähnlich einzufangen wie Mieville. Die Welt von Dieser Volkszähler konnte unsere Welt in den vierziger oder fünfziger Jahren des vorangegangenen Jahrhunderts sein - abgelegene Häuser auf Bergen verfügen über Stromgeneratoren, es gibt Taschenlampen zum Kurbeln. Gleichzeitig liegt über allem ein Hauch des Postapokalyptischen: In der Stadt am Fuße des Berges schließen die Waisenkinder sich zu Banden zusammen, und nur alle paar Wochen kommen Polizisten aus einer größeren Ortschaft, um nach dem Rechten zu sehen. Doch trotz dieser “Yesterday’s Future”-Atmosphäre ist das nicht unsere Welt. Alte Frauen kauen dort die berauschenden Säfte aus getrockneten Käferbeinen, und der Vater des jungen, dieser sorgenvolle Mann, dessen Blick gelegentlich abwesend wird, bevor er etwas - einen Vogel, einen Hund - tötet, fertigt im Auftrag der Menschen der aus der Stadt magische Schlüssel an. Gewöhnliches und Außerordentliches mischen sich vor den Augen eines traumatisierten Jungen unterschiedslos ineinander und erzeugen eine Geschichte über Fremdheit - der Vater des Jungen kommt aus einem fernen Land, und der Junge selbst ist fremd in der Stadt und fremd in seinem Zuhause; schließlich taucht ein Fremder auf, der Volkszähler, der den Jungen einmal mehr zu einem Fremden in einer neuen Welt machen wird … dazwischen Momente, in denen Grauen und Erleichterung Hand in Hand gehen.
Wie immer steht Mieville bei uns im SF-Regal. Dass das hier genauso gut Phantastik oder ein Krimi sein könnte und natürlich nichts von dem ganz ist, ist typisch für den Autor. Aber so verdichtet habe ich den unheimlich-magischen Mieville noch nie gelesen. Neben Mievilles ganz anderem, nüchternen SF-Roman Stadt der Fremden/Embassytown dürfte diese knappe Novelle mein Lieblingsbuch des Autors sein
China Mieville, Dieser Volkszähler liebeskind Euro 18,00
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