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Frisches aus dem Geschäft

Kalt, warm und größenwahnsinnig

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Jakob liest Cixin Lius The Dark Forest

Kürzlich habe ich erfahren, dass Cixin Lius Three-Body Problem-Reihe eigentlich ein Fix-Up ist, d.h., dass das chinesische Original ursprünglich in Form einer Reihe von Erzählungen in SF-Magazinen erschien – eine ehrwürdige Tradition übrigens, waren doch auch Isaac Asimovs erste Foundation-Romane solche Fix-Ups.

Das passt mir ganz gut in den Kram, weil es nämlich einen wunderbaren Vorwand dafür liefert, diesen Artikel zum zweiten Band der Reihe, The Dark Forest, in ähnlicher Weise anzugehen. Hier also meine zusammengetackerten Gedankenfetzen, die als Ganzes sicher nicht so schön und sinnfällig sind wie das Buch selbst, aber vielleicht geeignet sind, zu vermitteln, was an diesem Buch so schön und sinnfällig ist.

Erstens: Kalt
The Dark Forest ist, deutlich mehr als sein Vorgänger The Three-Body Problem, ein Labor-Roman: Er stellt eine Reihe von Fragen – wie geht die Menschheit mit der Aussicht auf ihre bevorstehende, aber noch weit in der Zukunft liegende Auslöschung um? Mit dem Bewusstsein, ständig unter feindlicher Beobachtung zu stehen? Welchen Einfluss hat das Individuum auf den Lauf der Geschichte? Und welchen Preis wäre die Menschheit bereit zu zahlen, um der Vernichtung zu entgehen?
All diese Fragen werden in The Dark Forest ziemlich explizit gestellt, augeleuchtet und weitgehend beantwortet; Der Tonfall ist kühl, Menschen erscheinen entweder als (zuweilen gnadenlos) rationale Denker oder als Material der soziologischen Betrachtung. Der Autor selbst enthält sich auf den ersten Blick weitgehend der Wertung (siehe zum zweiten Blick Punkt zwei: Warm).
The Dark Forest ist aber nicht nur ein Labor, sondern eine Reihe geschachtelter Labore: Die beobachtbaren Systeme von Kommunikationsversagen, Gewalt und notwendigen grausamen Konsequenzen wiederholen sich auf höherer und niedrigerer Ebene, was die Figuren im Roman auch entsprechend reflektieren. Man stellt dabei fest, dass man solche Systeme ganz unterschiedlich betrachtet und interpretiert, je nachdem, ob sie zwischen Menschen und Aliens, zwischen den Besatzungen zweier menschlicher Raumschiffe oder zwischen Individuen bestehen.
Die Verkörperung des kalten, rationalen (aber durchaus leidenschaftlichen) Blicks auf die Menschheit und das Universum, in dem sie lebt, ist Zhang Beihai, politischer Kommissar der zu Romanbeginn frisch gegründeten Erdflotte, für den die „Human Condition“ ein zu lösendes Problem darstellt. Es ist leicht, ihn beeindruckend zu finden, noch leichter, in abscheulich zu finden (er beschreibt sich in Gedanken sogar selbst als „not particularly likeable“), am allerleichtesten ist es aber, aus allen stellaren Nebeln auf einen unter den Füßen weggezogenen Boden zu fallen, sobald man begreift, welche Rolle er in dieser Geschichte letztendlich spielt.

Zweitens: Warm
Menschlich-warm wird es, wenn es um Luo Ji geht, einen der von der internationalen Gemeinschaft erkorenen „Wallfacer“ – eine Gruppe von Individuen, die angesichts der allessehenden, alleshörenden außerirdischen Beobachter in der absoluten Verschwiegenheit ihres eigenen Gehirns Abwehrpläne entwickeln sollen und zu deren Umsetzung gewaltige Ressourcen an die Hand bekommen. Luo Ji ist ambitionslos, ein Tagträumer, der sich nicht Großes, sondern ganz Privates herbeiträumt – die perfekte Frau, das perfekte Haus. Der Grund für seine Wahl zum Wallfacer bleibt vorerst rätselhaft, und Luo Ji hat auch kein Interesse daran, die Welt vor ihrem vierhundert Jahre in der Zukunft liegenden Untergang zu retten. Er nutzt seine Macht, um sich seine Wunschträume zu verwirklichen. Diese Entscheidung schildert Cixin Liu so glaubhaft und einfühlsam, dass man nicht im entferntesten darauf kommt, ihn als verantwortungslos oder als Versager zu verurteilen; zwischen den (im Buch nicht zu knapp vorkommenden) Generälen, Politkommissaren und UN-Beauftragten mit ihren großen, schrecklich vernünftigen Erwägungen, die gerne mal schwere Opfer erfordern, hat Luo Ji die Rolle des emotionalen Ankers. Wenn dann seine Traumfrau tatsächlich auftaucht, wird es zwischendurch lyrisch und auch ein bisschen kitschig – hier kommt Cixin Liu auch einer Wertung am nächsten, wenn es um die Frage geht, ob es wofür es überhaupt lohnt, auf das Überleben der Menschheit hinzuarbeiten. Seine Antwort ist nicht einerseits nicht originell, andererseits doch wieder, weil er sie gerade nicht zum universalen Prinzip erhebt – siehe dazu Punkt vier: Hoffnung.

Drittens: Technizismus
Es gibt eine Szene in The Dark Forest, die mich enorm an die Erzählung „When the People Fell“ von Cordwainer Smith erinnert. In der Geschichte wird ein logistisches Problem bei der Kolonisierung eines Planeten durch den Einsatz und Verschleiß enormer Mengen Menschenmaterials gelöst – erzählen tut Smith das sowohl in aller Drastik als auch mit heiterer Begeisterung für das unglaubliche Geleistete. Kurz, eine ziemlich schockierende Geschichte.
In der betreffenden Szene in The Dark Forest – im weitesten Sinne eine Raumschlacht – wird auch enormes Menschenmaterial verschlissen. Und obwohl dabei nichts Großes geleistet wird, zumindest nicht von der Menschheit, ähnelt sie Smiths Geschichte bezüglich der Begeisterung für jedes kleinste technische Detail der Operation. Es ist eine überwältigende, in ihrer unheimlichen, quasi-dokumentarischen Konsequenz albtraumhafte Sequenz. Obwohl Zhang Beihai in ihr nicht anwesend ist, spürt man in ihr die kalte Leidenschaft dieser Figur für schreckliche Wahrheiten.

Viertens: Hoffnung
Kalte Berechnung spielt eine Hauptrolle in The Dark Forest und hat im Finale ihren großen Auftritt. Aber ist sie der Schurke oder der Held des Romans? Na, wenn einer schon so fragt, dann kann die Antwort ja nur lauten: Beides, Keines oder Falsche Frage! Aber zwischen diesen drei Antworten entscheiden kann ich mich nicht entscheiden.
Jedenfalls findet eine Synthese in der Figur des Luo Ji statt: Aus der hoffnungslosen Perspektive, die ihm die kalte Rationalität präsentiert, leitet er eine grausame Strategie ab, die bei Erfolg den Rahmen für eine humane Entwicklung der weiteren Ereignisse stellen könnte. Der Schlüssel dazu ist zum einen Verständnis für die unnachsichtige Natur des Universums, zum anderen die Verständigung mit anderen über diese Erkenntnis und die Herstellung gemeinsamer Interessen unter den gegebenen üblen Bedingungen. So etwa nach dem Motto: Die Welt ist grausam, stellen wir also Verhältnisse her, in denen wir es möglichst nicht sein müssen. Ein schönes Antidot gegen jeden zynischen Sozialdarwinismus, der findet, dass man sich im Dienste einer fragwürdigen Wahrhaftigkeit einfach naturgemäß rücksichtslos zu verhalten habe.
Ob das jetzt glaubwürdig, realistisch oder gar wahr ist, mag und muss ich nicht entscheiden – denn wie gesagt ist The Dark Forest ein Laborroman, der seine Fragen – wie jedes Laborexperiment – unter spezifischen, hochartifiziellen Bedingungen untersucht, die nicht unbedingt etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben müssen. Wie dem auch sei, Cixin Liu findet eine höchst sympathische Antwort auf das unerfreuliche Ergebnis seiner Untersuchung.


Und nur, falls es in diesen vier Bausteinen nicht hinreichend zum Ausdruck gekommen ist: Ja, wie schon The Three-Body Problem im Vorjahr war The Dark Forest für mich 2015 der bislang faszinierendste Roman des Jahres.

Band 1 der Reihe: Cixin Liu, The Three-Body Problem, tor € 25,99
Band 2 der Reihe: Cixin Liu, The Dark Forest, tor € 26,00

Beide in englischer Sprache, aus dem Chinesischen von Ken Liu/Joel Martinsen

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